Renée Reichenbach, Helle Landschaft, 2011
Kannen und Chamäleons, Podeste und Gärten, Vasen und Türme, Leuchter und Fische - Renée Reichenbach vereint in ihren Werken scheinbar mühelos den immer wieder beschworenen Gegensatz zwischen Gefäß und Plastik. Ihre Gefäße sind Plastiken. Mühelos nur insoweit, als dass sie selbst keinen Widerspruch in diesen Dingen erkennen kann; Gefäß und Plastik bei ihr wie von selbst auseinander erwachsen, so natürlich zusammengehörend wie in der Keramik alter Kulturen, sei es der Kretas oder Mexikos. Nur scheinbar mühelos aber, weil man ihren Werken weder die Langwierigkeit der Arbeit noch die unnachgiebige Selbstkritik, die diesen Prozess begleitet, anmerkt, so selbstverständlich präsentieren sie sich dem Betrachter in ihrer Schönheit.
Renée Reichenbach baut ihre Objekte aus Platten, die sie montiert und mit modellierten Teilen kombiniert. Auf einen grob schamottierten, zur Fläche ausgewalzten Ton trägt die Künstlerin - gleich einem Malgrund - eine dünne Schicht graugefärbten Tones auf. In diesen werden unzählige hauchdünn ausgewalzte Schnipsel eingefärbten Porzellans oder verschieden farbiger Tone eingearbeitet. So entstehen auf der Tonplatte Flecken mit scharfen oder malerisch ausgefransten Rändern. Viele der Farbflecken sind angenäherte Drei- oder Vierecke - und scharfe, schwarze Ritzlinien sorgen dafür, dass die Rhythmen bei aller Nuanciertheit spannungsvoll und markant bleiben. Das Ergebnis ist eine Art Intarsienarbeit.
Verwendete die Künstlerin früher eine Vielzahl von kontrastierenden rotbraunen und grauen Tönen, beschränkt sie sich in den letzten Jahren auf einige wenige zurückhaltende Farben, die ihr die Möglichkeit geben, den Gesamteindruck ruhiger zu halten und mit dunkelgrauen, fast schwarzen Flächen kräftige Kontraste dagegen zu setzen. Die Objekte bestechen nun durch eine feine Nuancierung der Farbtöne Hellgelb und -grau sowie die artifizielle, zurückhaltende Strukturierung der Oberflächen. Stellenweise akzentuiert eine transparente oder weiße Glasur die Farben, vereinzelt leuchtet ein winziger Flecken Blau.
Die Platte wird anschließend wieder so geglättet, dass eine homogene Oberfläche entsteht. Mit Hilfe eines Messers oder einer Nadel wird die flächig-farbige Komposition geritzt und mittels Drahtgeflechten zart geprägt. Die farbliche und strukturelle Differenziertheit ihrer Keramiken ist beeindruckend und sucht ihresgleichen. Aus diesen aufwendig bearbeiteten Tonplatten schneidet sie die Segmente aus, die sie für das jeweilige Objekt benötigt. Ähnlich den Malern früherer Zeiten benutzt sie dafür manchmal einen Motivsucher.
Das Gefäß ist für Renée Reichenbach der Ausgangspunkt ihrer Arbeit, es ist die Grundform, die sie zur freien Gestaltung anregt. „Ohne Gefäß“, sagt sie, „wäre ich wie ein Schriftsteller ohne Alphabet.“ Das Gefäß hat sie schon immer begleitet: die Faszination neolithischer Scherben aus dem Museum für Vorgeschichte in Halle, die sie als Kind kennenlernte, ist ihr immer noch in Erinnerung. Die Vertrautheit dieser Artefakte vermitteln Renée Reichenbach das Gefühl, selbst Glied einer die Zeiten durchziehenden Kette zu sein. Prägend für die Studentin wurde ihre spätere Kollegin Gertraud Möhwald, bei der sie an Hand des Gefäßes alles Grundlegende für die weitere Arbeit erlernte - ein Lernprozess, in dem die engen Grenzen, mit denen Gefäße betrachtet werden, sich wie von selbst auflösten. Alles, was sie heute über Proportionen, Volumen, Kontraste und Spannungen weiß, wurde an Gefäßformen erarbeitet und bleibt in jedem neuen Zusammenhang anwendbar.
Das Funktionale des Gefäßes ist für die Künstlerin das Anregende, es gibt ihr ein Gerüst für ihre Tätigkeit, einen Rahmen, innerhalb dessen und in Auseinandersetzung mit dem sie ihr schöpferisches Potential entwickelt und die selbstgesteckten Grenzen erweitert - sowohl beim Einzelstück als auch kontinuierlich in ihrem gesamten bisherigen Werk. Ausgehend von diesen Selbstbeschränkungen bewegt sich die Künstlerin völlig frei, lässt sich anregen von Assoziationen, spielt mit den Formen und gibt ihrem Bedürfnis nach, Noch-Nicht-Dagewesenes zu erfinden. Die Ausgangsidee „Gefäss“ bleibt dabei eher im Unbewussten ruhen und beinflusst kaum noch die Formensprache. Eine Arbeitsweise, die produktive Distanz zur herkömmlichen Auffassung des Gefäßes ermöglicht.
Allerdings hat sich diese Arbeitsweise erst allmählich entwickelt. Ursprünglich drehte Renée Reichenbach Gefäße, die sie anschließend dekorierte - eine Vorgehensweise, die sie zunehmend als unbefriedigend empfand, und so entwickelte sie ihre einzigartige keramische Praxis, in der plastische Formung und Gestaltung der Fläche - wir könnten es klassischerweise als Dekor bezeichnen - derart ineinandergreifen, dass sie sich fortwährend gegenseitig beeinflussen. Aufregend und kompliziert zugleich ist dabei der Versuch, mit jedem Arbeitsschritt auf’s Neue die Farben und Formen einem gemeinsamen, möglichst selbstverständlichen Rhythmus unterzuordnen. Ein manchmal tagelanger Prozess, der Phasen des Abstandes benötigt, um mit einem neuen Blick an die eigene Arbeit heranzutreten, das bisher Geleistete kritisch zu prüfen.
So entwickelten sich im Laufe der Jahre aus den eckigen Schalen und Tabletts höhere podestartige Gebilde. Wie eine Außenmauer umfriedet die Wandung das Innere, das aufgeteilt wird in verschiedenfarbige Flächen, manchmal mit einer Vertiefung versehen. Diese „Gärten“ Renée Reichenbachs rufen Assoziationen wach an italienische Gärten, an Plätze oder Terrassen mit Mauern und Stufen oder an aztekische Tempelruinen. Den Gegenpol dazu bilden ihre Landschaften, die an Ruinen, an verlassene Siedlungen erinnern und Unbehagen beim Betrachter auslösen, unterstrichen durch ihre dunkelrot-grau-schwarze Farbigkeit und Öffnungen, die ins dunkle Innere führen.
Dieses architektonische Element ist auch ihren Vasen eigen, die wie Türme oder Säulenreste einer längst vergangenen Kultur anmuten. Es ist eine besondere Fähigkeit Renée Reichenbachs, uns mit ihren Arbeiten an Vertrautes, aber nicht näher Benanntes zu erinnern. Damit ist ihnen ganz natürlich etwas Monumentales eigen. Möglicherweise offenbart sich hier der Wunsch, Raumgefühl und Strukturen vergangener Zeiten zu begreifen, um so ihre Triebkräfte verstehen und für die eigene Arbeit fruchtbar machen zu können. Mittlerweile arbeitet Renée Reichenbach bewusst mit der Spannung, die sich aus assoziativer Vieldeutigkeit ergibt.
Aus der Verbindung von Dosen, Kästen und geschwungenen, vom Fisch abgeleiteten Formen entstanden vornehme Objekte mit schreinartiger Wirkung, die man - da sie sich teilweise immer noch öffnen lassen - weiterhin als Gefäße bezeichnen könnte. Ihnen eignet etwas von der zeichenhaften Monumantalität von Shinto-Schreinen - auch sie Gefäße - oder von japanischen Schriftzeichen. Renée Reichenbach behält sich nach dem Verkauf ihrer Arbeiten nicht mehr die Deutungshoheit über deren Funktion vor. Es zeugt von ihrer Toleranz, dass sie mit den verschiedenen Möglichkeiten leben kann. Sie überlässt es den jeweiligen Besitzern, ihre Kannen zu benutzen oder nicht. Ihr Gärten und Landschaften können pur, frei von jeder aufnehmenden Funktion ebenso ihre Wirkung entfalten wie durch eine in die Vertiefung gelegte einzelne Blüte oder darin abgelegte Früchte. Sie sind - wie eben alle Gärten - wandelbar; die Besitzerinnen können in einen immerwährenden Austausch mit ihnen treten und ihre Stimmungen darinnen spiegeln.
Die Konsequenz und Stetigkeit des Arbeitsprozesses, unbeirrt von den auch auf dem Kunstmarkt immer schneller werdenden Entwicklungen, bezeugt die Souveränität und Glaubwürdigkeit Renée Reichenbachs. Der Entstehungsprozess ihrer Objekte ist geprägt von Spontanität und Offenheit für Veränderungen, von der Freude am Material. Charakteristisch für Renée Reichenbach ist die selbstkritische Hinterfragung ihrer Arbeiten, begleitet von seltener Sensibilität. Beides mag ihr die Arbeit oft über die Maßen erschweren, verwandelt sich aber letztlich in die besondere Ausstrahlung ihrer Werke, die das Geheimnis ihrer eleganten Einzigartigkeit ausmacht.