Gudrun Sailer, Paar, 2005
Gudrun Sailers Köpfe und Figuren halten den Blick fest. Der Wille zur Mitteilung ist ihnen eingeschrieben. Der Ausdruck von Gesichtern und Körpern spricht von Selbsterlebtem - nirgends wird der Eindruck forcierter Emotionen oder unaufrichtigen Pathos' erweckt, bei dem die übersteigerte Attitüde nur das Eingeständnis verdeckt, nichts zu sagen zu haben. Die Figuren - und besonders die Paare - können wohl theatralisch genannt werden, obgleich sie jeder großen, dramatischen Geste entbehren. Aber der präzise in Szene gesetzte Abstand zwischen ihnen bewirkt eine große Spannung, tiefe Ruhe oder Verunsicherung - in jedem Fall fordern sie emotionale Anteilnahme heraus. Die Figuren kommunizieren untereinander und mit dem Betrachter. Man spürt die Anziehung oder die Entfremdung. Diese Lebendigkeit entspringt einem raschen Arbeitsprozess, der von Inspiration und Intuition geleitet wird: Die Keramikerin baut ihre Plastiken aus Tonplatten, die geformt, geschnitten oder gebrochen und zügig zusammengesetzt werden. Bei größeren Arbeiten umschließen diese Platten zumeist einen Hohlraum; in letzter Zeit entstehen aber auch massive Körper. Zwar zeichnet Gudrun Sailer auch, um Zusammenhänge und Funktionen der menschlichen Figur zu klären - aber Vorzeichnungen im Sinne eines Entwurfs, gar noch Modelle existieren für ihre Plastiken nicht. Ausgehend von einer Grundidee, einer Stimmung, Melodie oder Erinnerung an ein Ereignis, gestaltet sie Rhythmen, gibt der Figur Richtung und Form. Das rhythmische Gegeneinander der Tonplatten erzeugt die bestimmende Kontur - derart, dass den Betrachter bereits von Ferne die Silhouette der Figuren berührt. Die dicke, weiche Schlickermasse bildet einen lebendigen Kontrast zu den steifen Platten, die sie gleichzeitig zusammengefügt. Aus dem Wechsel gerader und unregelmäßiger Kanten, glatter und rauher Flächen folgt ein Wechselspiel des Lichts, dem ein Gutteil ihrer frappierenden Belebtheit geschuldet ist. Dieses Verhältnis von Statuarischem und Bewegtem macht das Theatralische, die Allgemeingültigkeit der Figuren aus. Der Betrachter gewinnt den Eindruck, dass hier - über die formalen Zusammenhänge hinaus - tatsächlich emotionale Beziehungen zwischen diesen Figuren bestehen. Die Patina des lederharten Tons verliert sich während des ersten Brandes. Wie um die Figuren erneut zum Leben zu erwecken, überarbeitet Gudrun Sailer die nun als entseelt empfundenen Plastiken mit farbigen Tonen und Engoben. Die farbigen Oberflächen zeugen von der Liebe für erdige, natürliche Farbtöne, von der Anziehungskraft von Steinen und Bergen, Moosen und Wasser mit ihren unendlich vielen Spielarten von Grau-, Braun-, Blau- und Grüntönen. Im Wesentlichen entscheidet sich die Künstlerin für einen Farbton, der die Figur dominiert. Aus dem Fließverhalten der dünnflüssigen Engoben ergeben sich Verdickungen, Verlaufsspuren, überraschende Verbindungen. Diese Zufälligkeiten verleihen den Figuren Spontaneität und treiben zur Weiterarbeit, weil sie die Künstlerin vor neue Fragen stellen. Am Ende dieses Prozesses ist eine malerische, lebendige Oberfläche entstanden. Das "Skizzenhafte" der Figuren, die Verve des plastischen Vortrags hat in den besten Momenten etwas Hinreißendes, fast schon Bezwingendes. Diese Künstlerin hat tatsächlich ein Thema: das Menschenleben, seine Einsamkeiten ebenso wie mögliche Beziehungen, harmonische und komplizierte: Paare, Mutter und Kind. Gudrun Sailer teilt ihre Anteilnahme an existenziellen Lebensfragen auf eine Weise mit, die Verallgemeinerungen zulässt. Das richtige Maß von Abstraktion und Realismus ermöglicht die Identifikation des Betrachters. Repräsentativ für diese Zweiergruppen sind zum Beispiel die "Zwei Frauen" von 2004: Die Protagonistinnen stehen mit den Rücken zueinander. Leicht versetzt, richtet jede ihren Blick in die entgegengesetzte Richtung. Die Arme liegen eng am Körper an oder sind lediglich fragmentarisch angedeutet. Sehr aufrecht und stolz, scheint diese Frauen nichts zu verbinden und alles zu trennen. Aber - sie stehen auf der Plinthe eng beieinander, so eng, wie nur bei Vertrauten üblich: Freundinnen, Schwestern, Mutter und Tochter. Ihre Abwendung voneinander setzt vorherige Zuwendung voraus. Dem Betrachter eröffnet sich ein Feld von Möglichkeiten - schwingen - bei aller Getrenntheit - die Kurven nicht aufeinander zu? Weist sie die verwandte Farbigkeit nicht als Wesen gleicher Art aus? Haben sich hier tatsächlich zwei Frauen gestritten, unfähig zu weiterer Kommunikation - oder stehen sie Rücken an Rücken zusammen gegen eine als feindlich empfundene Umwelt? Solcherart Interpretationsversuche zeigen, wie vieldeutig Gudrun Sailers Plastiken trotz aller Bestimmtheit sind. Es ist ihre Kunst, unbeseelten keramischen Massen sprechenden Ausdruck zu verleihen. Sie gibt ganz persönliche Antworten auf grundlegende Fragen des Lebens - Fragen nach Nähe und Abstand, Bindung und Unabhängigkeit, Konflikten und Versöhnung, nach dem Leben mit Verlust und Gewinn. Allesamt existenzielle Fragen, die gleichzeitig zutiefst alltäglich sind. Gudrun Sailer hat sich diesen Fragen geöffnet, in dem sie - über das eigentlich Künstlerische hinaus - die Zusammenarbeit mit anderen Menschen suchte. Es hat ihrer Kunst die gesuchten Inhalte gegeben: Ihre Figuren besitzen die Fähigkeit, den Betrachter in seinem Alltag innehalten zu lassen, um sich diesen Fragen zu stellen.