Sehr geehrte Damen & Herren, liebe Gestalterinnen & Gestalter, liebe Kolleginnen & Kollegen,
ein Ansatz für die heutige Rede war das Nachdenken darüber, wie – aus meiner Sicht – diese Ausbildung abgelaufen ist und was sie inhaltlich umfasste. Wenn ich allein bedenke, wie viele Werke von wie vielen Künstlern wir in den wenigen Stunden Kunst-, Architektur-Kultur- und Designgeschichte betrachtet haben. Ich habe es nicht gezählt, aber es sind mit Sicherheit weit über 1000. Es klingt so banal, was auf den Stundenplänen steht: Mittelalter (Romanik, Gotik), Renaissance, Barock, Rokoko, Klassizismus & Romantik, Gründerzeit, Impressionismus, dann Jugendstil, Expressionismus, Deutscher Werkbund, Bauhaus bis hin zur amerikanischen und skandinavischen Avantgarde. Es klingt banal und jeder, der nicht dabei war, nickt und glaubt, zu wissen, wovon ich rede. Jeder, der dabei war, weiß hoffentlich aber, dass es mehr war und sogar das nur ein erster Eindruck von weitaus Größerem ist. Um das zu verdeutlichen, müsste man jetzt nur beispielhaft einige Techniken, Namen, Materialien und Sujets erwähnen, was ich bewusst unterlasse, weil es hier nicht um mein Fach geht, sondern um die Ausbildung als Ganzes.
Und jetzt muss man meinen, mit relativ wenigen Stunden veranschlagten Unterricht hochrechnen: 21 Dozentinnen & Dozenten haben Euch im Laufe der Jahre unterrichtet, einige kurzzeitig, andere haben Euch langfristig begleitet. Ich wollte die Kolleginnen & Kollegen nicht damit behelligen, mir eine Auflistung all dessen zu erstellen, was sie mit Euch, den Kursteilnehmern, ausprobiert und experimentiert haben. Für alle, die – wenn sie ehrlich sind – keine Ahnung haben (und dazu gehöre auch ich, wenn es um andere Fächer geht), dann klingt es vermutlich genauso banal wie die spröden Angaben zu meinem Fach. Es heißt dann nur: Gestalterische Entwurfsarbeit, komplexes Gestalten, Lithographie, Radierung, Kalligraphie, Freihandzeichen, Gestaltungs- und Farbenlehre, Handsatz, Typographie, Buchbinden, skulpturales & plastisches Gestalten, Keramik & Schmuckgestaltung, Internetseitengestaltung, Fotografie, Layout, CAD, Designrecht & Rhetorik. Hinter jedem dieser Begriffe verbirgt sich ein eigener Kosmos, zu dem man sich den Zugang erarbeiten muss, um zu erahnen, welche gestalterischen Möglichkeiten sich dann für denjenigen, der darin weiter vordringt, eröffnen. Jahrhundertealte künstlerische Techniken wurden ebenso unterrichtet wie modernste Technologien für die Arbeit mit dem Computer und dem Fotoapparat. Ehrlich gesagt habe ich meinen schlichten Versuch, mittels Wikipedia ansatzweise zu verstehen, was CAD überhaupt ist, nach kurzer Zeit abgebrochen. Und das ist auch gut so, denn man muss nicht alles wissen, aber sollte sich dieser eigenen Begrenztheit unbedingt bewusst sein. Das ist hilfreich, um Verständnis und Respekt für die Komplexität fremder Arbeitsgebiete zu entwickeln.
Ein anderer Ansatz für diese Rede war der Gedanke, dass wir Dozenten in der Mehrzahl Freiberufler sind, die diese Weiterbildung mittlerweile zum dritten Mal gemeinsam gestalten. Dass wir in dieser Zeit – obwohl im Berufsalltag in der Regel Einzelkämpfer – uns hier als Kollegen verstehen, die gemeinsam an einem Ziel arbeiten und deren Arbeit aufeinander Bezug nimmt.
Ich persönlich möchte an dieser Stelle ausdrücken, dass es ein gutes Gefühl ist, zeitweise Kollegen zu haben und dass ich unsere Gespräche als Bereicherung empfinde.
In der Hoffnung, für alle zu sprechen, meine ich, dass wir auch dieses Mal aus der Begegnung mit den Teilnehmern gelernt haben, dass wir uns in der Auseinandersetzung mit Euch einmal mehr unserer eigenen Arbeit bewusst geworden sind. Uns (oder einigen von uns) ist klarer geworden, was wir wissen und was wir vermitteln können. Ich glaube, dass wir unsere Arbeit in mancher Hinsicht besser machen als vor 8 Jahren in der Anfangsphase des Projekts. Und da war sie auch schon ganz gut!
Keinem Außenstehenden und womöglich nicht mal den Teilnehmern selbst ist klar, wieviel Vorarbeit in jedem Unterricht steckt, wie sehr die Dozenten bestrebt sind, gezielt individuelle Angebote zu machen und sich untereinander abzustimmen, damit die verschiedenen Fächer sich im Verlauf der Ausbildung ergänzen.
Ungefragt bestätigt wurde mir dieser Eindruck von Renèe Reichenbach, die mir über ihre Erfahrungen bei der Betreuung einer der hier präsentierten Abschlussarbeiten schrieb: Wenn die wohl unvermeidlichen Anfangsschwierigkeiten erst einmal überwunden sind, kann man beim Beobachten des „Fortgangs der Arbeiten sicher sein, dass etwas gelernt und begriffen und der Blick geweitet wurde. ... Und das ist sicherlich der Summe aus vielfältigen Ansätzen unterschiedlicher Dozenten und Fächer in dieser Ausbildung geschuldet. Das Ergebnis zeigt, dass diese über Jahre fortwährende Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Aufgaben in einer Person zu einem stimmigen Gesamtergebnis führen kann.“ Der Kreis schließt sich also im Verlauf der Jahre, welche diese Ausbildung braucht, die Dinge greifen plötzlich ineinander, die einzelnen Arbeitsschritte erklären sich selbst und man erkennt den Weg, den man gegangen ist, rückblickend als Ganzes.
Ich wollte Renées Zeilen gerne mit Euch, den Kollegen, teilen ‒ als Zeichen der Anerkennung Eurer, unserer Arbeit.
Ab und an ‒ wenn man Forderungen an diese Qualifizierungsmaßnahme stellt – und damit meine ich Forderungen aus unterschiedlichsten Richtungen, sollten alle Beteiligten mal reflektieren, wieviel Engagement in diesem Unterrichtsprojekt steckt.
Ein dritter Ansatz für diese Rede war der Gedanke, den Begriff „Gestaltung“ zu thematisieren. Beim Recherchieren und den ersten Notizen spürte ich eine gewisse Unzufriedenheit, wenn man dabei nur an die zu gestaltenden Objekte denkt – so vielfältig diese auch sein mögen. Das war mir als Ansatz zu eng. Aber der Blick weitet sich automatisch, wenn man alles, wirklich alles als Ergebnis von Gestaltung betrachtet, denn das ist es letztendlich. Wenn man sich fragt: Wem gestalte ich was? Warum gestalte ich es wie? Wenn man den gesamten Gestaltungsprozess betrachtet.
Noch beim Nachdenken darüber erreichte mich der Brief einer bekannten Künstlerin, die mir berichtete, in diesem Jahr einige Ausstellungen mit neu geschaffenen Werken bestückt zu haben, welche dann von ihr zum jeweiligen Ausstellungsort transportiert und in der Ausstellung aufgebaut wurden, um am Ende der Ausstellungen allesamt wieder abgeholt zu werden, weil nichts verkauft wurde. Beim Lesen dieser Zeilen wurde mir klar, dass es bei Gestaltung um viel mehr geht als um ideal funktionierende und/oder ästhetisch perfekte Objekte.
Es geht bei unserer Arbeit ‒ und obwohl ich jetzt besonders diejenigen anspreche, die im kreativen Bereich tätig sind ‒ um uns alle. Es geht um jede Form von Arbeit ‒ um die grundsätzliche Gestaltung von Arbeits- und Lebenssituationen. Es geht immer auch um das Gestalten von Arbeitsprozessen und Arbeitsbedingungen. Und das betrifft uns tatsächlich alle.
Für Angestellte gibt es mittlerweile einen Mindestlohn, für Freiberufler und dazu zählen die meisten Künstler, viele Dozenten und selbstständige Gestalter im Handwerk, gibt es keinen. Für viele von uns gibt es auch keine von Berufskammern verbindlich festgelegten Honorarordnungen. Das Argument, welches kreativ Schaffende oft zu hören bekommen, „Aber es macht Ihnen doch Spaß“ ist inakzeptabel. Auch kreative Arbeit ist Arbeit und dient somit in erster Linie dem Erwerb des Lebensunterhalts. Warum fragt man keinen Bankenmanager, Vorstandschef, Personalmanager, Arzt, Juristen oder Universitäts-Professor: „Aber es macht Ihnen doch Spaß“? Im Grunde genommen geht es bei der Gestaltung von Arbeit und den dafür nötigen Prozessen im Kern immer auch um die Frage, wie man mit Menschen umgeht, welchen Wert man ihrer Arbeit beimisst und der Wert einer Arbeit wird in unserer modernen Gesellschaft zuerst und fast ausschließlich über die Entlohnung ausgedrückt.
Der Soziologe Richard Sennett, der interessanterweise die Kreativwirtschaft – ebenso wie die Hochtechnologie und die Finanzwirtschaft – als Beispiel destruktiver Kooperation im neuen Kapitalismus versteht [1], weil hier nämlich unter dem Deckmantel des angeblich positiv zu verstehenden Teams kurzzeitige Arbeitsgruppen gebildet werden, aus denen man so schnell wie möglich so viel wie möglich Leistung (auch in Form von Ideen) herausholen will, möchte die für jede Arbeit nötige Kooperation als „handwerkliche Kunst“ verstanden wissen. „Sie erfordert die Fähigkeit, einander zu verstehen und aufeinander zu reagieren, um gemeinsames Handeln zu ermöglichen.“ [2] Sie erfordert auch das nötige Verständnis von der Arbeit der Anderen.
Wenn jemandem der Anwesenden dieser Bogen womöglich zu weit gespannt erscheint, dann sei auf die Weltausstellung 1900 in Paris verwiesen. Die erste Weltausstellung fand 1851 im Londoner Hyde Park unter dem Titel „Great Exhibition of the Works of Industry of All Nations“ im eigens dafür errichteten Kristallpalast, einem spektakulär modernen 600 m langen Bau aus Eisen und Glas, statt. Weltausstellungen präsentierten einem Millionenpublikum die neuesten technologischen und ästhetischen Entwicklungen. Sie standen im Brennpunkt des öffentlichen Interesses, sind Ausdruck der industriellen Revolution und der Konkurrenz der Märkte im frühen Kapitalismus. Sie stehen für den Beginn des modernen Massenkonsums, der dann die Kunstgewerbebewegung in Gang setzte, welche unter anderem zur Gründung des Deutschen Werkbundes, einem Vorläufer des Bauhauses, führte, in dessen Tradition wir uns heute verorten. 1900 präsentierten 76.112 Aussteller auf der Weltausstellung in Paris unter anderem einen 3,5km langen rollenden Fußweg, einen mit Erdnussöl betriebenen Dieselmotor, Plauener Spitze, das Telegraphon (das erste Gerät, das Sprache aufzeichnete) von Valdemar Poulsen, der dafür den Grand Prix erhielt, Richard Riemerschmids mit einer Goldmedaille ausgezeichnete Inneneinrichtung mit dem köstlichen Namen „Zimmer des Kunstfreundes“ sowie die neuesten Wassertoiletten, industrielle Webstühle und Maschinengewehre – allesamt Gestaltungen! Neben dieser offiziellen Ausstellung der neuesten Produkte und Techniken fand sich noch eine Ausstellung der ganz anderen Art: Il Musée Social, das Sozialmuseum – oder wie Sennett schreibt: „Ein Louvre der Arbeit“ [3]. Es ging um die soziale Frage, man zeigte mittels Dokumenten, unter welchen Arbeitsbedingungen all diese neuesten Entwicklungen produziert wurden. Unter dem gemeinsamen Schlagwort der „Solidarität“ gab es „Landkarten der Armut“ von London zu sehen, die deutschen Aussteller präsentierten Dokumente zum Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein, die Amerikaner thematisierten die Rassenfrage. Diese Ausstellung schockierte und provozierte gleichermaßen bewusst wie erfolgreich – und hat bis heute nicht an Aktualität verloren. Die Produktion ‒ und das impliziert die Gestaltung von Produkten ‒ ist immer auch eine Gestaltung von Arbeitsprozessen, von Arbeitsverhältnissen. Das betrifft den einzelnen selbstständigen Handwerker und Gestalter ebenso wie den freiberuflichen Künstler. Es betrifft die große Masse von Menschen, welche die Produktion in Fabriken realisieren oder unter schwierigsten Bedingungen die Rohstoffe dafür beschaffen.
Es geht um die Verantwortung, die jeder für seine Arbeit hat, wie er seine Arbeitswelt gestaltet ‒ für sich und für andere. Das betrifft auch die Angestellten, zum Beispiel diejenigen, die eine Stelle im Kunst-, Kultur- und Kreativbereich haben, die sozusagen von Amts wegen mit all den Freiberuflern und Selbstständigen kooperieren. Es geht ganz konkret auch um die Honorar- und Preisgestaltung (Auch hier steckt das Wort „Gestaltung“ drin!), die sich unter anderem über die verwendeten Materialien und die aufgebrachte Arbeitszeit – ein ganz wesentlicher Faktor für Geistesarbeiter – berechnet. Es geht bei Gestaltung immer auch um den Wert unserer Arbeit. Wenn dann die Arbeit, die im besten Fall ein Qualitätsprodukt erzeugt, auch noch Spaß gemacht hat, weil es ein kreativer, nicht entfremdeter Prozess war – umso besser! Aber Freude an der Arbeit ist kein Argument für unzureichende Bezahlung.
Es geht darum, die Arbeit von Anderen zu verstehen, zu erfassen, was sie warum wie machen. Es geht um Kompetenz und das auf jeder Ebene, Kompetenz als Voraussetzung für Vertrauen in Arbeitsbeziehungen, die in der Regel hierarchische Beziehungen sind. Nur so kann man nachhaltig gestalten. Mit jedem Gegenstand, mit jedem Produkt gestalten wir in einem umfassenden Sinn unsere Lebensumwelt.
Diesen größeren Zusammenhang sollte man sich bewusst machen. Nicht jeden Tag, nicht bei jedem kleinen Auftrag, aber grundsätzlich schon. Dann erst – wenn man bereit ist – weiter zu denken, erfasst man die Komplexität von Gestaltung.
Gestaltung ist im besten Sinne ein Handwerk, das mehrere Dinge erfordert: [4]
1. Konkrete handwerkliche Fähigkeiten als Voraussetzung für die Nutzung von diversen Werkzeugen und Arbeitstechniken.
2. Ein professionell geschultes Gespür für Ästhetik für den Umgang mit Farben, Formen und Materialien.
3. Kreativität und Phantasie als unabdingbare Voraussetzung für die Entwicklung neuer Lösungen.
4. Empathie, um die Bedürfnisse unterschiedlicher Interessengruppen zu verstehen und das möchte ich ausdrücklich nicht nur auf die Nutzer, sondern im besten Fall auch auf die Produzenten verstanden wissen.
Weiter fassen kann man den Begriff „Gestaltung“ womöglich nicht. Unter dem sollte man ihn aber auch nicht denken.
In diesem Sinne wünschen wir Dozenten den Gestaltern im Handwerk immer auch mal einen Blick zurück zu dieser Ausbildung, ein kurzes Innehalten und Reflektieren.
Wir wünschen aber auch ein begeistertes Beginnen, denn nur so kommt der kreative Denkprozess in Gang.
[1] „Wir müssen Tribalismus vermeiden“. Interview von Tim Caspar Boehme mit Richard Sennett. In: TAZ. Die Tageszeitung, 10. Oktober 2012, S. 15. [2] Richard Sennett, Zusammenarbeit. Berlin 2012, S. 10. [3] Ebd., S. 55. [4] Hier beziehe ich mich auf www.queo.de: Eine kurze Geschichte der Gestaltung. https://www.queo.de/news/blog/eine-kurze-geschichte-der-gestaltung/