Gudrun Sailer, Gelassen bleiben, 2001
(Auszug)
Da Gudrun Sailer und Rainer Gerson der Meinung waren, das Wagnis einer gemeinsamen Ausstellung eingehen zu können, wenn sie dabei nur ausreichend Distanz zueinander halten, damit sich das jeweilige Werk entfalten kann, möchte ich es mit meiner Rede ähnlich halten. Zu verschieden sind die hier vorgestellten künstlerischen Positionen, als dass man mühsam nach Gemeinsamkeiten suchen sollte, bloß um die Form zu wahren. Plastik steht neben Malerei, Figürliches neben Abstraktem, Ruhe neben Unruhe. Die Gegensätzlichkeit steigert die jeweilige Eigenart zusätzlich.
Beginnen möchte ich mit Gudrun Sailer, die seit Jahren kontinuierlich ihr großes, um nicht zu sagen: das klassische Thema der Kunst verfolgt: die menschliche Figur oder – mehr noch – das menschliche Leben mit alle seinen Höhen und Tiefen, Einsamkeiten und Beziehungen.
Ihre Figuren - besonders die Paare oder Gruppen - können wohl theatralisch genannt werden, obgleich sie der großen Dramatik entbehren. Während der präzise in Szene gesetzte Abstand zwischen den Einzelfiguren eine große Spannung bewirkt, verbreiten andere Arbeiten, besonders ihre Köpfe, eine tiefe Ruhe. In jedem Fall fordern sie emotionale Anteilnahme heraus. Die Figuren kommunizieren untereinander und mit dem Betrachter. Man spürt die Anziehung zwischen ihnen oder ihre Entfremdung. Besser als Gudrun Sailer kann ich diese Atmosphäre auch nicht beschreiben, sie charakterisiert sie als „lebendig bei aller Stille“.
Diese Lebendigkeit entspringt einem raschen Arbeitsprozess, der von Inspiration und Intuition geleitet wird: Die Keramikerin baut ihre Plastiken aus Tonplatten, die geformt, geschnitten oder gebrochen und zügig zusammengesetzt werden. Bei größeren Arbeiten umschließen diese Platten zumeist einen Hohlraum; daneben entstehen aber auch massive Körper.
Zwar zeichnet Gudrun Sailer auch, um Zusammenhänge und Funktionen der menschlichen Figur zu klären - aber Vorzeichnungen im Sinne eines Entwurfs, gar noch Modelle existieren für ihre Plastiken nicht. Ausgehend von einer Grundidee, einer Stimmung, Melodie oder Erinnerung an ein Ereignis, gestaltet sie Rhythmen, gibt der Figur Richtung und Form. Das rhythmische Gegeneinander der Tonplatten erzeugt die bestimmende Kontur - derart, dass den Betrachter bereits von Ferne die Silhouette der Figuren berührt.
Die dicke, weiche Schlickermasse bildet einen lebendigen Kontrast zu den steifen Platten, die sie gleichzeitig zusammengefügt. Aus dem Wechsel gerader und unregelmäßiger Kanten, glatter und rauher Flächen folgt ein Wechselspiel des Lichts, dem ein Gutteil ihrer frappierenden Belebtheit geschuldet ist.
Dieses Verhältnis von Statuarischem und Bewegtem macht das Theatralische, die Allgemeingültigkeit der Figuren aus. Der Betrachter gewinnt den Eindruck, dass hier - über die formalen Zusammenhänge hinaus - tatsächlich emotionale Beziehungen zwischen diesen Figuren bestehen.
Die Patina des lederharten Tons verliert sich während des ersten Brandes. Wie um die Figuren erneut zum Leben zu erwecken, überarbeitet Gudrun Sailer die nun als entseelt empfunden Plastiken mit farbigen Tonen und Engoben. Die farbigen Oberflächen zeugen von ihrer Liebe für erdige, natürliche Farbtöne, von der Anziehungskraft von Steinen und Bergen, Moosen und Wasser mit ihren unendlich vielen Spielarten von Grau-, Braun-, Blau- und Grüntönen. Im Wesentlichen entscheidet sich die Künstlerin für einen Farbton, der die Figur dominiert. Besonders die Weiß- und Grautöne tragen gezielt zur Beruhigung der Form bei.
Aus dem Fließverhalten der dünnflüssigen Engoben ergeben sich Verdickungen, Verlaufsspuren, überraschende Verbindungen. Diese Zufälligkeiten verleihen den Figuren Spontaneität und treiben zur Weiterarbeit, weil sie die Künstlerin vor neue Fragen stellen. Am Ende dieses Prozesses ist eine malerische, lebendige Oberfläche entstanden. Das „Skizzenhafte“ der Figuren, die Verve des plastischen Vortrags hat in den besten Momenten etwas Hinreißendes, fast schon Bezwingendes.
Gudrun Sailer hat offensichtlich ihren Platz gefunden. Sie schreckt nicht vor der großen Geste zurück. Beispielhaft erscheinen mir hier ihre Hände, die einzeln oder in kleinen Gruppen stehen und liegen. Es ist ein dramatischer, existenzieller Gestus. Es kann eine Bitte um Hilfe sein oder ein Angebot, auch ein Zurückweisen scheint möglich oder ein leichter Gruß. Hier – ebenso wie bei ihren Gruppen - eröffnet sich dem Betrachter ein Feld von Möglichkeiten zur Interpretation. Indem sich die Künstlerin der Eindeutigkeit entzieht, regt sie uns zur Auseinandersetzung mit ihren Arbeiten an. Die eigenen Interpretationsversuche zeigen, wie vieldeutig Gudrun Sailers Plastiken trotz aller Bestimmtheit sind. Es ist ihre Kunst, unbeseelten keramischen Massen sprechenden Ausdruck zu verleihen. Dabei teilt sie ihre Anteilnahme an existenziellen Lebensfragen auf eine Weise mit, die Verallgemeinerungen zulässt. Das spezifische (um nicht zu sagen: das richtige) Maß von Abstraktion und Realismus ermöglicht die Identifikation des Betrachters.
Gudrun Sailer gibt ganz persönliche Antworten auf grundlegende Fragen des Lebens - Fragen nach Nähe und Abstand, Bindung und Unabhängigkeit, Konflikten und Versöhnung, nach dem Leben mit Verlust und Gewinn. Allesamt existenzielle Fragen, die gleichzeitig zutiefst alltäglich sind. Gudrun Sailer hat sich diesen Fragen geöffnet, in dem sie - über das eigentlich Künstlerische hinaus - die Zusammenarbeit mit anderen Menschen suchte. Es hat ihrer Kunst die gesuchten Inhalte gegeben: Ihre Figuren besitzen die Fähigkeit, den Betrachter in seinem Alltag innehalten zu lassen, um sich diesen Fragen zu stellen. So hat die Künstlerin ihren ganz eigenen Ton gefunden, der sich zwar einordnet in einen umfassenden großen Klang, gleichzeitig aber unverwechselbar seine Besonderheit bewahrt.
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Gudrun Sailer hat sich befreit von den Zumutungen einer marktorientierten Kunstszene, die künstlerischen Erfolg und damit letztendlich das persönliche Selbstwertgefühl abhängig von durchaus Mode abhängigen Verkaufszahlen macht. Es ist die Freiheit, den ganz eigenen Weg zu gehen. Die hier ausgestellten Arbeiten zeigen einen Zwischenstand, eine Phase ihres Werks. Es ist weder der Anfang, noch das Ende, sondern immer nur Stücke eines Weges.