Es war ein ungewöhnlich anregendes Gespräch, das ich letzte Woche mit Anja Geiling über den von ihr entworfenen und produzierten Schmuck führte. Stück für Stück stellte die Künstlerin mir ihre Arbeiten vor, die sie als Diplomarbeit an der Hochschule für Angewandte Wissenschaft und Kunst in Hildesheim 2006 geschaffen hat. Obwohl wir selbstverständlich über Materialien, Formen und Techniken der Schmuckstücke sprachen, gerieten wir dabei aber immer wieder vom eigentlichen Thema ab und tauschten unsere Gedanken zu gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen, aber auch Meinungen über private Bereiche unseres Lebens aus. Ausgelöst wurde dieses Hinterfragen gesellschaftlicher Werte und Zustände einzig und allein durch die vor uns ausgebreiteten Kostbarkeiten, die Sie heute in dieser Ausstellung sehen können.
Der Hauptteil der hier präsentierten Arbeiten setzt sich mit menschlichen Leidenschaften auseinander, genauer gesagt mit den sieben Todsünden. Diese Todsünden, die so viele Jahrhunderte für die Menschen in Europa qua Theologie eine existenzielle Bedeutung hatten, spielen im heutigen Leben in dieser Form kaum noch eine Rolle. Aber Anja Geiling schlägt in ihrer Arbeit einen interessanten Bogen zwischen traditionellem Thema und Gegenwart.
Nachdenkend über menschliche Leidenschaften – ein Begriff, der sich in seiner Komplexität kaum fassen und darstellen lässt, - stieß sie auf die sieben Todsünden, die für die Künstlerin die „stärksten und wesentlichen Gefühle des Menschen“ beinhalten: Wollust, Neid, Zorn, Geiz, Hochmut, Völlerei und Trägheit sind die menschlichen Hauplaster oder -Charaktereigenschaften, die Menschen zum Sündigen veranlassen. Umgangssprachlich gebräuchlich, wenn auch theologisch falsch ist die Bezeichnung dieser sieben Hauptlaster als sieben Todsünden. Diese veranlassen Menschen, sie leidenschaftlich, das heißt maßlos und gegen jede Vernunft auszuleben. Reduziert man die Todsünden um diesen Aspekt der Maßlosigkeit, bleiben – so Anja Geiling - zutiefst menschliche, treibende Sehnsüchte und Kräfte übrig. Befreit man diese von dem jahrhundertealten, moralischen Ballast, handelt es sich völlig wertneutral erst einmal nur um machtvolle Energien, die die Menschen in sich bergen. Das ist aber eine moderne psychologische und damit säkularisierte Sicht, denn die Idee von den Todsünden entstammt einem vielschichtigen christlichen Gedanken-Gebäude über die menschlichen Laster und Tugenden und somit über das Verhältnis der Menschen zu Gott. Todsünden bezeichnen in der katholischen Lehre die willentliche Übertretung göttlicher Gebote in vollem Bewusstsein einer Entscheidungsmöglichkeit. Dies führt im katholischen Verständnis – je nach Schwere der Sünde – bis zum Verlust der göttlichen Gnade und des ewigen Lebens.
Es ist also eine in unserer Kultur ursprünglich zutiefst angstbesetzte, nichtsdestotrotz aber verlockende Thematik, mit der sich Anja Geiling mit den gestalterischen Mitteln des Schmucks auseinandersetzt. Ihr Thema ist also bei weitem nicht nur ein formales, sondern ein geistiges. (Und das finde ich im Zusammenhang mit Schmuck wirklich ungewöhnlich.) Sie setzt sich mit dem Sinngehalt von Wollust, Neid, Zorn, Geiz, Hochmut, Völlerei und Trägheit auseinander, definierte die Begriffe und suchte nach Möglichkeiten, die damit verbundenen Vorstellungen und Gefühle zu beschreiben. Über diese gedankliche Brücke entwickelte sie für jede der sieben Todsünden spezifische Farb- und Formvorstellungen und assoziierte haptische Qualitäten mit ihnen. Im Ergebnis entstanden ganz verschiedene Schmuckstücke: Halsketten, Ringe und Broschen, die von ungemein ästhetischen Reiz sind und somit nicht nur als Vehikel für bestimmte Inhalte, sondern auch als Schmuckstücke selbst überzeugen.
Die kleinen, weichlichen, gleichzeitig aber auch straffen, rosa Stoff-Pölsterchen der Völlerei mit ihren porenartigen Stepp-Spuren und naht-bedingten Dellen lassen sofort Assoziationen an weiche, rosige Haut und zu gut genährte Körper aufkommen. Nicht unangenehm, aber auf keinem Fall dem gängigen Schönheitsideal entsprechend. Die Ketten, in denen sie verarbeitet wurden, beziehen sich also direkt auf den menschlichen Körper, auf Haut, Fleisch und Fett und thematisieren so sein Bedürfnis nach Nahrung. Dieses Bedürfnis resultiert bei der Völlerei nicht aus einem tatsächlichen Nahrungsmangel, sondern es kaschiert eine innere Leere, die es zu füllen gilt. Kauen und Geschmack lösen ein unbeschreibliches Wohlgefühl aus, das im Moment des Genusses die eigene Inhaltsleere vergessen lässt und deshalb ständig suchtartig wiederholt werden muss. Gleichwohl führt es nicht zur gewünschten Befriedigung, weil psychische Bedürfnisse mit physischen verwechselt werden. Bei der Kette, die nur zwei Säckchen aufweist, ist der kleine trotzdem der schwerere Sack, so dass ein gewisser Ausgleich zwischen Fülle und Leere erfolgt, während die andere Kette durch die Vielzahl der Säckchen Üppigkeit und Fülle symbolisiert. Das gut Genährte entwickelt hier unbestreitbar eine gewisse Anmut und unbeschwerte Heiterkeit.
Der Neid
wird von Anja Geiling unter anderem in einer Kette und zwei Broschen visualisiert, die eine der wenigen Farbvorstellungen, die mit einem Laster verbunden sind, aufgreifen. Dass Neid gelb sein soll, ist eine weit verbreitete Vorstellung. Die Kühle des Gelbs wird bei Kette und einer Brosche durch grüne Nylonfäden unterstrichen, die aus den winzigen vulkanartigen Öffnungen kommen. Die Fäden agieren wie Fühler, die die Umgebung erkunden, ihre Wahrnehmung über die porenartigen Sinneszellen in den Körper weiterleiten, wo sie spitze, stechende Gefühle verursachen. Über diese von der Künstlerin intendierte Vorstellung hinaus erscheint es mir aber auch – da den Nylonfäden eine gewisse Spannung eigen ist -, als ob der kleine gelbe Körper aus den ihm eigenen Drüsen giftige Flüssigkeit verspritzt. Die Broschen dagegen verfügen auf der Rückseite über kleine Metallspitzen, um so auch den Schmerz zu erzeugen, den der Neidische als Folge seines Lasters ertragen muss – allerdings nur in Maßen, da es sich ja um tatsächlich tragbaren Schmuck handelt.
Der Geiz
wird nur durch einen einzigen großen, wenngleich nicht wirklich schönen Ring verkörpert. Im Gegensatz zu den anderen Todsünden, die meistens in kleinen Gruppen repräsentiert sind, bleibt er allein – so wie ein geiziger Mensch, der anderen nichts geben möchte, obwohl er es könnte. Dass Geben selig macht, weil es Freude bereitet und diese Freude auf den Gebenden zurückfällt, ist ihm völlig fremd. So bleibt er einsam, zieht sich zurück, ist trotzdem missgelaunt und wird hässlich. Von unscheinbarem, matten Silber ist der stark gedellte, etwas unförmige Ring ein Sonderling. Aber er ist nicht zu bemitleiden, denn durch eine Bewegung seiner Trägerin zeigt er kurz das, was er Kostbares in das Leben einbringen könnte, wenn er zu geben bereit wäre: Fünf winzige Rubine fallen, an dünnen Röhrchen wie Augen sitzend, aus den Löchern hervor und verstecken sich bei einer Rückwärtsbewegung der Hand genauso schnell wie sie hervorkommen sind, um den Ring wieder unförmig und etwas hässlich zurückzulassen. In ihren Höhlen verborgen, erinnern die Rubine auch an gerötete Augen, die aus dem Schutz heraus unbemerkt ihre Umgebung taxieren. Es ist diese Überraschung, die mit einem Geräusch verbundene, ungewöhnliche Bewegung, die den Ring als Schmuckstück zu etwas wirklich Begehrenswertem macht.
Die Trägheit
gestaltet Anja Geiling mittels zweier Ketten, die ganz unterschiedlich in ihrer Form sind. Die offene Kette greift das Prinzip der Waage auf: Obwohl von unterschiedlicher Größe haben die auf den beiden Seiten hängenden Körper ein annähernd gleiches Gewicht, so dass keine Bewegung in eine der beiden Richtungen ausgelöst wird. Die Künstlerin versteht in Bezug auf die Trägheit diesen Kräfteausgleich negativ, da er Stillstand bedeutet. Die zweite Kette ist äußerst schlicht und anspruchslos in ihrer Form: Ein schwarzes Stoffquadrat hängt an einer Schnur aus ebenfalls schwarzen Onyxperlen. Die Kette wirkt absolut ruhig und schwer. Sie ist scheint das vollkommene Gegenteil von Leidenschaft und Tatendrang zu sein. Aber die Trägheit ist die schlimmste aller Todsünden, weil sie den Willen, die Hoffnungen, den Wunsch nach und den Glauben an Veränderbarkeit, weil sie einfach alle dem Menschen eigenen Energien zum Erliegen bringt und ihm so in jeder Hinsicht die Chance zur Entwicklung raubt. Dass im Menschen, selbst wenn er von der Trägheit verdeckt wird, immer ein Kern ist, der ungeahnte Möglichkeiten birgt, symbolisiert auch diese Kette, die eine organische, metallische Form versteckt enthält.
Der Zorn
ist eine besonders affektive Todsünde, die extrem schnell auftreten, kulminieren, sich entäußern und wieder legen kann. Zorn macht blind, sagt man. Nicht nur, weil Differenzierungen übersehen oder Sachverhalte pauschalisiert werden, sondern weil im Zorn auch nicht wieder gut zu machender Schaden entstehen kann. Darauf verweisen die Porzellanscherben, die daran erinnern, wie groß das Bedürfnis ist, dem Zorn Entladung zu verschaffen; er muss sich fast immer auch körperlich in einer heftigen Bewegung entäußern. Es ist eine allgemein verbreitete Vorstellung, dass im Zorn Gegenstände geworfen werden – zumeist nach der die Emotion auslösenden Person oder einfach in den Raum hinein, wenn kein Schuldiger anwesend ist. Und es ist ein Klischee, dass es sich dabei oft um Porzellan handelt, dass zu Bruch geht. Der bei einem Zornesausbruch entstehende Schaden kann aber auch ideeller Natur sein und Verletzungen bei allen an der Situation beteiligten Personen hinterlassen. Selbst der Zornige mag noch lange an eine in diesem Moment von ihm verübte Ungerechtigkeit zurückdenken und an seiner Scham darüber leiden. Auch das vermitteln die Porzellanscherben dieser spröden Halskette, die sich immer auch hart und etwas stechend bei der Trägerin bemerkbar machen werden, obwohl sie selbstverständlich der Tragbarkeit zuliebe sanft geglättet wurden.
Der Hochmut
wird ausnahmsweise von Anja Geiling mittels zweier Ringe, die als Pendants konzipiert sind, sichtbar gemacht. Der erste ist ein aufstrebender, hochpolierter, sehr glatter, wenngleich doch nur hohler Kegel. Er steht nur auf einer winzigen Basis, sein Rückhalt am eigentlichen Ring ist eher wacklig, so wie maßlose Selbstüberschätzung und Wichtigtuerei oft jeder Basis entbehren. Er strebt schnell in die Höhe und erinnert auch an einen Trichter, der selbst das kleinste, unbedeutende Geräusch machtvoll anschwellen lässt. Der nach oben zeigende Kegelboden ist mit einem Spiegel geschlossen, dem klassischen Symbol der Eitelkeit. Aber ein Spiegel ist ambivalent, die Trägerin des Rings kann sich darin selbstverliebt, aber auch mahnend-kritisch betrachten. Das Pendant dazu bildet ein Ring, dessen Körper eine breite Basis hat. Der matte Körper strebt nur maßvoll auf, dabei mehr in sich selbst ruhend. Er wirkt recht unscheinbar und entpuppt sich erst bei näherem Hinsehen. Macht man sich die Mühe, den kleinen Deckel zu öffnen, dann zeigt sich der kostbare, bescheiden zurückgehaltene Schatz, über den der Ring verfügt: Ein winziger heller Stein leuchtet wie ein Stern im dunklen Inneren und belohnt die Trägerin dafür, sich für ihn entschieden zu haben.
Die Wollust
ist womöglich diejenige Todsünde, deren Bewertung sich am stärksten gewandelt hat. Während sexuelle Lust in der christlichen Tradition zumindest in der theologischen Perspektive jahrhundertelang selbst innerhalb der Ehe negativ besetzt war, weil die beiden Protagonisten der Erbsünde, Adam und Eva, mit der Entdeckung ihrer Körperlichkeit gegen Gottes Gebot verstießen und dafür mit dem Verlust des Paradieses bezahlten, ist heutzutage ein erfülltes Sexualleben – zumindest im allgemeinen Verständnis der aufgeklärten Öffentlichkeit – unbestrittene Basis von Selbstvertrauen, Zufriedenheit mit sich und dem Partner, ja sogar der Gesundheit und von der Liebe nicht zu trennen. Anja Geiling betont mit ihren Schmuckstücken weniger den aufregenden, animalischen, ja vielleicht sogar zerstörerischen Aspekt der Lust. Sie erfindet zarte, versponnene Broschen und Ketten, um ihre Sicht darzustellen. Kleine, organische Formen erinnern an Fruchtkapseln oder an Knospen. Bei der Kette hängen sie vor der Mitte des Bauches, wo sich die mit der Lust verbundenen Gefühle wie Aufregung oder Angst zumeist bemerkbar machen, und zartrosa Chalcedonperlen quellen wie Samen aus den Hüllen hervor. Bei anderen Schmuckstücken verfangen sich die silbernen Kapseln in einem Gewirr zarter Fäden, die unentwirrbar miteinander verflochten und verknotet sind – Sinnbild widerstreitender Gefühle, die die Wollust begleiten können bzw. des Gefühlschaos’, das mit der Liebe einhergehen kann. Diese zarten Schmuckstücke zeugen gleichermaßen von der Schönheit und Verletzlichkeit sexueller Lust.
Anja Geiling findet erstaunlich überzeugende Formen, um moderne Vorstellungen von den sieben Todsünden zu visualisieren. Sie verzichtet dabei vollkommen auf herkömmliche Wertungen, sondern besetzt – ganz im Gegenteil – das Thema durch konsequente Ästhetisierung positiv. Es ist zuallererst ganz einzigartiger, wunderschöner Schmuck, den die Künstlerin produziert. Es sind keine Buttons, die ein Statement der Trägerin zu grundsätzlichen moralischen Fragen des Lebens verkünden. Aber Anja Geiling gelingt ein bei Schmuck nur äußerst seltenes Kunststück: Betrachtet und diskutiert man die einzelnen, kleinen Kunstwerke, verlässt man schnell den Bereich des Formalen und findet sich unversehens in einer anregenden Diskussion über moralische Werte, über das heutige Verständnis der sieben Todsünden und ihre Bedeutung für unser Leben wieder. Und das, obwohl kein einziges ihrer Stücke in irgendeiner Weise plakativ gemacht ist. Es ist ein Phänomen!
Wie Sie sehen, täuscht die Harmlosigkeit der Einladungskarte, die ein bisschen mit der Romantik alter Fotoalben spielt. - Zeigt sie doch die Kette der Wollust mit diesen kleinen, an Brüste erinnernden silbernen Kügelchen. Völlig frei von jeglicher Abschreckung verlockt das Schmuckstück einfach nur zum Anlegen und Tragen. So schön kann eine Todsünde sein!